Allgemein

Power (#2)

1.

Das Buch Der Mensch ohne Inhalt von Giorgio Agamben kommt mir bei verschiedensten Gelegenheiten in den Sinn, so auch bei der Lektüre der Artikel von Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 26./27. Januar und vom  16. April 2013 zur wachsenden „Branche der Selbstoptimierung“ und den daran angelehnten, zeitgenössischen Bildungsbegriff.

Das Buch von Giorgio Agamben ist bereits älter, die italienische Ausgabe L’uomo senza contenuto ist schon 1970 erschienen, die deutsche Übersetzung allerdings erst letztes Jahr, 2012, das heißt mehr als vierzig Jahre später. Agamben ist als Denker in der zeitgenössischen Theoriediskussion sehr präsent, das mag den Verlag bewogen haben, die Schrift so lange nach ihrem ersten Erscheinen schließlich auch auf Deutsch herauszubringen. In den späten neunzehnhundertsechziger Jahren hat Giorgio Agamben an Martin Heideggers Seminaren im südfranzösischen Le Thor teilgenommen, das ist dem Buch streckenweise deutlich anzumerken.

Der Mensch ohne Inhalt ist eine Ideengeschichte der Ästhetik, die als philosophisches Genre durch Alexander Gottlieb Baumgarten und seine 1750 erschienene Aesthetica begründet wurde. Ästhetik gilt  gemeinhin als jene philosophische Disziplin die sich mit Kunstdingen beschäftigt. Für Agamben ist sie aber mehr die Wissenschaft vom guten Geschmack und vom Kunstgenuss, nicht aber von der Kunst.

Und darum gibt es – falls es uns im Ernst darum zu tun ist, die Frage der Kunst in unserer Zeit zu stellen – wohl nichts Dringlicheres als eine Destruktion der Ästhetik, die das gewohnheitsmäßig als Evidenz Erlebte entthronen und sich bereitfinden würde, die Zuständigkeit der Ästhetik als Wissenschaft vom Kunstwerk anzufechten. (AGAMBEN, S. 14)

Hierfür präsentiert Agamben einen Text, der  Aristoteles, Platon, Kant, Fichte, Schlegel, Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger, Hölderlin, Kafka, Diderot, Balzac, Baudelaire und andere aufbietet, seine Thesen zu  stützen. Agambens Schrift hier im Ganzen gerecht werden zu wollen, habe ich nicht im Sinn, vielmehr möchte ich einer eigenartigen Gemeinsamkeit von Agambens Text und den Artikeln von Thomas Steinfeld zur Selbstoptimierung und der aktuellen Konjunktur des Voluntarismus nachgehen.

Giorgio Agamben - Der Mensch ohne Inhalt

In der Zeit ab 1750 werden viele, der uns heute noch bewegenden Ideen und Begriffe geprägt, nicht zuletzt auch diejenigen zur Kunst. Agamben aber geht noch weiter zurück, zunächst ins siebzehnte Jahrhundert. Er verweist auf David Teniers d. J. und dessen Theatrum Pictorium, den ersten illustrierten Katalog eines Kunstmuseums  und auf Marco Boschini, dessen Buch Carta del navegar pitoresco „die minutiöse Beschreibung einer imaginären Galerie“ enthält. Mit Bezug auf die Charactères von Jean de La Bruyère beschreibt er den »homme de goût«, den Menschen von Geschmack, der damals die Bühne des „theatrum mundi“ betritt. Fast versteht es sich von selbst, dass dieser »homme de goût«, der Mensch von Geschmack, in den tonangebenden Kreisen der Aristokratie entsteht.  Dieser Mensch ist mit einem besonderen Sensorium ausgestattet, einem untrüglichen Sinn für den »point de perfection« der Meisterwerke, sicher weiß er sie von den Machwerken zu unterscheiden.

Diese spezifisch moderne Kunstsinnigkeit scheidet die Kenner von den Ignoranten. Paradoxerweise  wächst zusammen mit der Sensibilität für kulturelle Höchstleistungen auch das Vergnügen daran, unter seinem eigenen Niveau zu bleiben, der Spaß am schlechten Geschmack.

Das Gegenstück zum »homme de goût«, zur Kennerschaft der Menschen von Geschmack, der »Connaisseurs«, jener Genießenden, die die besondere Qualität, Tragweite und Tiefe der Werke vollends zu erfassen vermögen, ist das Genie, ein rastlos Schaffender mit naturwüchsiger Produktivität.

Zunehmend befreit von den Vorgaben und Hemmungen eines überlieferten Kanons, werden die Künstler  mehr und mehr vor allem auf eine Subjektivität verpflichtet, der zwar einerseits die ganze Welt zum Material wird, andererseits aber immer weniger ein gewachsener und tradierter Fundus bildnerischen Ausdrucks, eine Bildsprache,  zur Verfügung steht. In diesem Sinne wirklich sprachlos stehen sie der Fülle ihrer Subjektivität gegenüber, eingeschworen auf ein vage geahntes Schönes – Kant sieht das ästhetische Urteil in einem „übersinnlichen Substrat der Menschheit“ begründet, das durch nichts weiter begreiflich gemacht werden kann.

Agamben illustriert dies mit der Erzählung Das unbekannte Meisterwerk von Honoré de Balzac. Die Hauptakteure der Geschichte sind drei Maler, ein älterer, charismatischer Künstler namens Frenhofer, ein noch junger, jedoch viel versprechender Künstler, Poussin, und einer, der die mittlere Generation vertritt, Porbus. Seit Langem arbeitet Frenhofer an einem sagenhaften Werk, das noch niemand zu sehen bekam – bis jetzt – denn die beiden jüngeren bringen den alten Frenhofer schließlich soweit, ihnen das Bild zu zeigen. Als er es voller Stolz für sie enthüllt, stehen sie rätselnd, rat- und verständnislos vor dem bis dahin unbekannten Meisterwerk, sie sind völlig perplex angesichts „einer Mauer aus Farbe“ aus der in einer Ecke die unvergleichlich gemalte „Spitze eines nackten Fußes“ ragt. Frenhofer entgeht die Ratlosigkeit und das Unverständnis seiner Freunde nicht – zuerst zweifelt er an sich und seinem Können, dann beschimpft er seine Freunde und wirft sie am Ende aus dem Atelier. Die Nacht darauf stirbt Frenhofer, nachdem er zuvor noch seine Bilder verbrannt hat.

Einfach wäre es, die Erzählung nur als weitere Variation zum Thema von Genie und Wahnsinn  zu nehmen und damit sich zufrieden zu geben. Seltsamerweise jedoch scheint diese Geschichte, die in Frankreich, im Paris des frühen siebzehnten Jahrhunderts spielt – Porbus und Poussin sind historisch verbürgt – etwas für Kunst der Moderne Charakteristisches zu thematisieren. Außerhalb der Intuition des Schaffens, wo sich eines zum anderen fügt, sind auch die Künstler ihrer Sache nicht mehr sicher, weil sie auf der Suche nach der gültigen, der absoluten Form an ihren Werken zweifeln, bisweilen verzweifeln, ganz im Banne der Vision einer Kunst, die die Welt unmittelbar als Kunst neu zum Leben erweckt.

Kunst, so ganz allgemein, ist uns vielleicht selbstverständlich, die Werke bleiben aber mehr oder weniger fragwürdig und dies gilt nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Künstler der Moderne selbst, denen bei ihrer Suche nach der gültigen Form, letztlich alle Form häufig fragwürdig und nichtssagend wurde, so dass es am Ende oft schien, nur die verworfenen, übermalten, die zugemalten, die zerstörten Werke seien die wahren Meisterwerke, denn diese allein hielten der Utopie einer schlackenfreien, letztgültigen, einer absoluten Form die Treue, der am Ende die Verwandlung von Kunst in Leben und umgekehrt, von Leben in Kunst, dann gelänge. Nicht zufällig sind die Helden der Kunst der Moderne zwei große Zertrümmerer: Pablo Picasso und Marcel Duchamp. Diese setzten um, was Friedrich Schlegel um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert für die romantische Dichtung formulierte:

Die romantische Dichtart ist noch im Werden[…] Sie allein ist unendlich, wie sie allein frey ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkühr des Dichters kein Gesetz über sich leide. (SCHLEGEL, S. 69 f)

2.

Der moderne Kunstbegriff trennt auf Seiten der Künstler die Subjektivität vom Ausdrucksvermögen – ich darf alles sagen, weiß aber nicht wie.

Die Betrachter dagegen sehen sich in eine geschmäcklerische Distanz verwiesen. Sie bezahlen das Wissen um die Qualität der Werke, um jenen ominösen  »point de perfection« und die Sicherheit ihres ästhetischen Urteils mit dem Verlust eines vitalen Bezuges zur Kunst. Die bloße Interessantheit der Werke hat das Interesse an der Kunst ersetzt.

Dem Geschmack wird alles zum Objekt, zum Präparat. Das Besondere dieses Geschmacks ist diese Leblosigkeit, sein Desinteresse an Inhalten, sofern sie nicht Anlass für interessante Gestaltung sind. Erst in der Distanz zur künstlerischen Produktion ist Geschmack vollends Geschmack, ganz Urteil. Inhalte sind gleichgültig, was allein zählt, ist der ästhetische Genuss. Das „interesselose Wohlgefallen“ (oder Missfallen) kreist um eine Leere.

Der gute Geschmack weiß Bescheid, er ist immer schon da, hat immer schon verstanden, sicher liest er das Werk, sein Verständnis ist bloß eine Abkürzung zur Abstraktion, zum Urteil. Die naive Freude an der Entdeckung ist ihm genauso unzugänglich wie fragendes Innehalten, wie Anteilnahme. Von Interesse ist die Sensation, das Spektakuläre.

Unterm Regime der Ästhetik verliert sich der Sinn für die Kunst. Der Geschmack etabliert eine quasi autonome Sphäre des Ästhetischen, wo der nihilistische Wille zu entfesselter Produktion und möglichst ungehemmten Genuss alle normativen Fragen verdrängt.

Bei seinem Gang durch das Gebäude abendländischer Theoriebildung in Sachen Kunst  gelangt Agamben selbstverständlich auch zu dessen Fundamenten, dem Denken der alten Griechen und deren Auffassungen vom Tun und Lassen des Menschen. Agambens Rekonstruktion der altgriechischen Begrifflichkeit ist deutlich inspiriert von Martin Heidegger. Dabei widmet er sich sehr ausführlich dem  Gegensatz von Poiesis (griechisch: ποίησις) und Praxis (griechisch: πρᾶξις).

Praxis ist sinnvolles Handeln, zielgerichtet, zweckorientiert, vom Willen bestimmt, der Reproduzierbarkeit und der Erfahrung verpflichtet. Praxis hat ein operationales Verhältnis zur Welt.

Kunst als Poiesis dagegen ist nicht Selbstzweck, sie empfängt ihren Sinn nicht aus sich selbst, sondern von einem Anderen, sie dient der Wahrheit – Aletheia (griechisch: ἀλήθεια), der heideggerschen „Unverborgenheit“ – und spannt den Raum der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft. Damit schafft sie zuallererst einen Aufenthalt für den Menschen. „Die Kunst ist die Gabe des ursprünglichen Raumes des Menschen.“(AGAMBEN, S.135)

Die Unterscheidung von Praxis und Poiesis findet sich ähnlich auch bei Seamus Heaney in seinem Aufsatz Vom Fühlen in die Wörter (Feeling into Words), hier als Unterscheidung von Handwerk und Technik

Ich bin der Meinung, dass Technik etwas anderes ist als Handwerk. Handwerk ist etwas, das sich von anderen Gedichten erlernen lässt. […] Es kann entfaltet werden ohne Bezugnahme auf die Gefühle des Selbst. Es weiß, wie man das tüchtige verbale Muskelspiel aufrechterhält; es kann sich damit zufrieden geben, vox et praeterea nihil ­­­­­­­- nur Stimme und sonst gar nichts – zu sein, nicht aber Stimme im Sinne des „Findens einer eigenen Stimme“. […] Technik, wie ich sie definieren würde, meint nicht ausschließlich des Dichters Umgang mit Wörtern, seine Handhabung von Metrum, Rhythmus und sprachlicher Struktur; sie meint auch eine Definition seiner Haltung dem Leben gegenüber, eine Definition seiner eigenen Wirklichkeit. Sie meint das Aufspüren von Wegen hinaus aus seinen normalen kognitiven Bindungen durch einen Sturm auf das Ungesagte: eine dynamische Wachsamkeit, die vermittelt zwischen den Ursprüngen des Fühlens in Erinnerung und Erfahrung und den formalen Betätigungen, die diese in einem Kunstwerk zum Ausdruck bringen. Technik imprägniert das Wasserzeichen mit dem individuellen Muster aus Wahrnehmung, Stimme und Gedanken, mit dem Duktus und der Textur der eigenen Zeilen; sie bedeutet jene umfassende kreative Inanspruchnahme der Reichtümer in Bewusstsein und Körper, durch welche die Bedeutung von Erfahrung in die Jurisdiktion von Form eingebracht wird. Technik ist das, was, mit Yeats zu sprechen, „das Bündel aus Zufall und Inkohärenz, das sich zum Frühstück niedersetzt“ in „eine präzise Vorstellung, etwas Beabsichtigtes, Vollständiges“ verwandelt. (HEANEY 1992, S. 15)

I think technique is different from craft. Craft is what you can learn from other verse. […] It can be deployed without reference to the feelings or the self. It knows how to keep up a capable verbal athletic display; it can be content to be vox et praeterea nihil – all voice and nothing else – but not voice as in „finding a voice“. […] Technique, as I would define it, involves not only a poet’s way with words, his management of metre, rhythm and verbal texture; it involves also a definition of his stance towards life, a definition of his own reality. It involves the discovery of ways to go out of his normal cognitive bounds and raid the inarticulate: a dynamic alertness that mediates between the origins of feeling in memory and experience and the formal ploys that express these in a work of art. Technique entails the watermarking of your essential patterns of perception, voice and thought into the touch and texture of your lines; it is that whole creative effort of the mind’s and body’s resources to bring the meaning of experience within the jurisdiction of form. Technique is what turns, in Yeats’s phrase, „the bundle of accident and incoherence that sits down to breakfast“ into „an idea, something intended, complete.“ (HEANEY 1980, S. 47)

Im Zeitalter der Ästhetik wird Kunst nun also Praxis und hört damit auf Poiesis zu sein. Im ästhetischen Modus wandelt sich Kunst in Kunstpraxis, sie ist Kunst (Agamben), ihr Schatten,  geworden. Was bleibt, ist eine Kunst, die sich im rastlosen Machen um sich selbst dreht, die sich als Praxis selbst Ziel und Inhalt zugleich ist und die ansonsten über alles als Material verfügt.

Am Ende bleibt auch hier, wie in der Branche der Selbstoptimierung, der Wille das Wollen zu wollen, die Entscheidung für eine vitalistische Produktivität. Nietzsche wird angeführt als einer der prominenten publizistischen Mentoren dieser Feier des wollenden Willens, verstanden als Feier des Lebens. So ist es dann auch verständlich, dass immer weniger Menschen nur Betrachter sein wollen, sie wollen mitproduzieren, partizipieren an der Selbstverdichtung und Selbstoptimierung durch Kunstpraxis, keine Lebenstätigkeit, die nicht durch das Label Kunst geadelt würde.

Joyce Ace

Agamben zieht eine Linie von den etwa seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sich ausprägenden Vorstellungen zu Kunst und Ästhetik zu unserer, vielfach als  Zeitalter des Nihilismus diagnostizierten Moderne. Hier ist es wo sich Ästhetik und der Kult der Selbstoptimierung treffen, in einem heillosen Voluntarismus, einer triumphalen Feier der Willens, der nichts als sich selber will. Eine Ethik der Selbstermächtigung und Selbstdurchsetzung wie im Buch The 48 Laws of Power (dt.: Power. Die 48 Gesetze der Macht), trifft auf eine Ästhetik der Selbstverwirklichung durch rastlose Produktivität.

Das Ziel, auf das die abendländische Ästhetik seit ihren Anfängen zusteuerte, ist eine Metaphysik des Willens und damit des Lebens, das wiederum als Energie, als schöpferischer Impuls verstanden wird. (AGAMBEN, S. 96)

Nachdem Agamben die Moderne unterm Regime der Ästhetik für die Kunst verloren gibt, fragt er selbstverständlich nach Abhilfe und dabei fallen zwei Namen, Hölderlin und Kafka. Hölderlin ist der Dichter der Erinnerung an die Entschwunden Götter und der Hoffnung auf deren Wiederkehr. Kafka ist der Dichter des Ausharrens, der Kunst als Offenhalten des Raumes, des Einstehens für eine unbekannte Sinnhaftigkeit, des Überlieferns ohne Überlieferung.

Epilog – Good Days Ahead

Agambens Buch gehört zur großen Gruppe jener pessimistischen Schriften über den steten Niedergang der Kultur. Früher war vielleicht auch nicht alles gut, aber doch besser als heute und das Beste haben wir eh in einer mythischen Zeit verloren und finden es vielleicht einst in einer ebensolchen wieder.

Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. (KLEIST, S. 476)

So faszinierend und, meines Erachtens, in vielem auch zutreffend, Agambens Diagnose ist – das gilt so zum Beispiel auch für die Analysen Adornos zur Kulturindustrie – lassen mich derartige Geschichten von schicksalhaftem Verfall und Verlust immer auch unzufrieden. Dieser Blick auf das Leben sieht es als ein gescheitertes. Aber, für das perfekte Leben kommen wir immer zu spät, oder sterben zu früh.

Der Kunstmarkt der Auktionen, des großen Geldes und der Großsammler feiert zwar die Großkünstler, die Maniacs und den Bombast der Kunstmanufakturen mit ständig neuen Preisrekorden, doch parallel dazu, scheint mir, gibt es einen gegenläufigen Strom in der Kunst, der auf mehr Fragilität und Nachdenklichkeit setzt, normative Fragen diskutiert und eine Verpflichtung der Kunst aufs Soziale, ja auf Nützlichkeit – bei Gottfried Boehm die Kategorie des „Dekorativen“ – nicht grundsätzlich für abwegig hält. Bei vielem handelt es sich scheint‘s um die Auslagerung sozial heimatloser Praktiken in den Bereich der Kunst. Oft verbindet sich auch da ein Gestus von sozialer Verbindlichkeit und Verbundenheit mit dem Willen zum Spektakulären. Und bei genauer Betrachtung der Phänomene ist auch schnell nicht mehr so ganz klar, welcher der beiden Agamben‘schen Kategorien von Praxis und Poiesis die einzelnen Werke jeweils zuzurechnen sind, und ob die Trennlinie nicht vielmehr durch die Werke selbst verläuft, an denen so durchaus noch einmal etwas erscheint, das uns Menschen ein wie auch immer vielfältiges Bild unserer selbst vermittelt: facettenreich, uneinheitlich, vielfältig gebrochen, unzusammenhängend, widersprüchlich. Vielleicht brauchen wir gar nicht „die Kunst“ und auch nicht „den Menschen“, vielleicht ist uns mehr geholfen mit Menschen und ihren Künsten.

„Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.“, schreibt Odo Marquard in seiner Apologie des Zufälligen (MARQUARD, S. 127). Die eigene Bedingtheit, die Endlichkeit des Menschen zu akzeptieren, scheint mir kennzeichnend für viele dieser KünstlerInnen; niemand weiß alles, niemand kann alles, keiner kennt sich vollständig selbst, geschweige denn den anderen – und doch müssen wir uns in der Welt zurechtfinden, sind wir auf einander angewiesen. Erst im Umweg über das Du, den Mitmenschen, werden wir zum Menschen unter Menschen und damit auch zu dem besonderen Menschen, der wir für uns selbst und andere sind – also jemand, der mit seinen provisorischen Lebensorientierungen zurechtkommen muss. (MARQUARD, S. 125)

Das Absurde an all den Schiften und Ratgebern zur Selbstoptimierung – genau wie an denen zu künstlerischer Selbstverwirklichung und Karriere – ist, dass uns vorgegaukelt wird, das Rätsel  des Lebens sei gelöst, wenn wir nur den Rat beherzigen wollten, der uns da zuteil wird – werden könnte, sofern wir nur wollten, wollen könnten, den Willen hätten … endlich den Willen hätten … !

Quellen:

AGAMBEN, GIORGIO; Der Mensch ohne Inhalt, Berlin, Suhrkamp, 2012

BOEHM, GOTTFRIED. Zuwachs an Sein – Hermeneutische Reflexion und Bildende Kunst. In Wie Bilder Sinn erzeugen, von GOTTFRIED BOEHM, S. 243-267. Berlin, Berlin University Press, 2007

HEANEY, SEAMUS; Vom Fühlen in die Wörter, in: Die Herrschaft der Sprache, München u. Wien, Hanser, 1992

Ders.; Feeling into Words, in: Preoccupations, London (UK) u. Boston (US), Faber &  Faber, 1980

KLEIST, HEINRICH VON; Über das Marionettentheater, in: Werke und Briefe, 4 Bde., Bd. 3, Erzählungen, Frankfurt a. M., Insel Verlag, 1983

MARQUARD, ODO; Apologie des Zufälligen, Stuttgart, Reclam, 2008

SCHLEGEL, FRIEDRICH; Schriften zur kritischen Philosophie, 1795-1805, Hamburg, Felix Meiner, 2007

 

Hinterlasse einen Kommentar