Wer wollte, konnte letzten Samstag und Sonntag ausgiebig zum Besuch der Stuttgarter Galerien nutzen; zum Start in die neue Ausstellungssaison hatten alle das Wochenende über für einen Rundgang geöffnet – zum 10. Mal bereits und wie jedes Jahr unisono mit dem Ruf: „ART-ALARM“.
Ich hatte mir den Samstag für meinen Rundgang reserviert. Vielleicht gab es Unermüdliche, die alle teilnehmenden Galerien besuchten, ich jedenfalls zählte nicht dazu, ich beschränkte mich auf eine Auswahl.
Meine Galeristin Anja Rumig zeigt in ihren Räumen derzeit Arbeiten von Gert Riel, einige wenige aus Stahl, hauptsächlich aber Wandarbeiten aus gebogenen, farbig gefassten Aluminiumtafeln, die virtuos Materialspannung, Oberfläche, Licht und Raum thematisieren.

Gert Riel, Galerie Anja Rumig, Ausstellungsansicht
Klaus Gerrit Friese zeigt unter dem Titel „Outsider“ Arbeiten von Horst Ademeit, Morton Bartlett, Chris Hippkiss, Wolfgang Hueber, Paul Humphrey, Foma Jaremtschuk, Michail Paule, Miroslav Tichy. Die Zeichnungen von Foma Jaremtschuk, Michail Paule und Chris Hippkiss haben mich am meisten beeindruckt.
Michail Paule war von 1930 bis 1937 in einer psychiatrischen Anstalt der Sowjetunion interniert, er starb 1939. Foma Jaremtschuk wurde 1936 unter Stalin wegen Verleumdung der UdSSR in ein Arbeitslager deportiert, 1947 wurde er dann in die Psychiatrie eingewiesen, er starb 1986. Chris Hippkiss wurde 1964 in London geboren und lebt derzeit in Frankreich.
Parrotta Contemporary Art wagt die originelle Gegenüberstellung zweier Künstler, deren Geburtsjahre ein gutes Jahrhundert auseinanderliegen. Zum einen ist das der Belgier Jules de Bruycker, der von 1870 bis 1945 gelebt hat; von ihm werden in der Nachbarschaft von Kubin und Ensor angesiedelte Radierungen und Zeichnungen gezeigt. Der andere ist Johannes Lotz, Jahrgang 1975, der mit großformatigen Malereien auf Leinwand und Papier vertreten ist.
Am späten Nachmittag dann bin ich von der Kunstroute abgewichen und in eine Buchhandlung gegangen, wo ich in dem neuen Thriller von Dan Brown, „The Lost Symbol“, geblättert habe. Vor allem hoffte ich eine Stelle zu finden, von der ich in der Süddeutschen Zeitung gelesen hatte.
Der seit „Angels and Demons“ und „The Da Vinci Code“ als Detektiv wider Willen bestens eingeführte Harvard-Symbolologe Robert Langdon, findet da im Capitol in Washington, wo er einen Vortrag halten soll, eine abgetrennte Hand, ausweislich des Fingerringes, die eines Freundes. Die Stelle war nicht schwer zu finden, sie befindet sich im 10. Kapitel des Thrillers, in der hierzulande ausliegenden, englischsprachigen Ausgabe auf Seite 40.
Ich habe Dan Browns neuen Roman noch nicht gekauft, denn ich arbeite mich gerade durch ein anderes Stück Kriminalliteratur mit dem altmodisch harmlos klingenden Titel „Fantomas: Mord in Monte Carlo“. Schade, dass man nicht den Titel der französischen Originalausgabe, „Fantômas , La Main Coupée“, ins Deutsche übertragen hat, „Die abgehackte Hand“ – geht doch.
Auch hier also – seltsame Koinzidenz – eine abgetrennte, eine abgehackte Hand, auch identifizierbar durch einen angesteckten Ring. Sie gehört demnach zu Norbert du Rand, einem Liebhaber der demi-mondainen Isabelle de Guerray.
„La Main Coupée“ ist bereits 1911 erschienen, es ist der 10. (schon wieder die 10 ?!) Band einer Reihe von Romanen über das Treiben des Superschurken Fantômas, einer Variante jenes schwarzromantischen Typs Outlaw, den eine furchterregende Kombination überragender Intelligenz und gewissenloser Grausamkeit auszeichnet. Der Maler René Magritte war ein Fan von Fantômas.
Die Autoren Pierre Souvestre und Marcel Allain haben zwischen Februar 1911 und September 1913 monatlich einen Roman der Serie bei Arthème Fayard veröffentlicht. Nach dem Tod von Pierre Souvestre schrieb Marcel Allain zwischen 1926 und 1963 alleine noch vierzehn weitere Fantômas-Romane.
Außer dem genannten „Mord in Monte Carlo“ der 1986 beim Gerhardt Verlag erschienen ist, gibt es meines Wissens keine weiteren Übersetzungen ins Deutsche.
Abgehackte Hände, Fantômas, Dan Brown, Grausamkeit – Quentin Tarantino fiel mir ein, der das Morden und Schlachten in seinen Filmen auch ausgiebig inszeniert, jüngst in „Inglorious Basterds“, dann erinnerte ich mich an einen Aufsatz von Karlheinz Bohrer in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.05.2007: „Die Ästhetik des Bösen“.
Bohrer skizziert zunächst den Gang des Bösen durch die Literaturgeschichte, beginnend bei der Orestie des Aischylos gelangt er zu den Dichtungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Exemplarisch nennt er Charles Baudelaire und dessen Gedichte in „Les Fleurs du Mal“ („Die Blumen des Bösen“) sowie Franz Kafka und die Erzählung „In der Strafkolonie“.
Karlheinz Bohrer charakterisiert „den Zustand des Dichters als Melancholiker, ausgesetzt der Unendlichkeit des Vorstellbaren“. Aus diesem Zustand erwächst eine Verfassung des Geistes, die „für die Affinität des modernen Dichters zum Bösen charakteristisch ist: nämlich seine Konzentration auf das Gefühl des Unendlichen“.
„Der moderne Dichter (…) will das Böse gar nicht überwinden, er sucht es geradezu. (…) Man könnte es aber auch die Forderung nach einer Absolutheit des intensiven Wortes und Bildzeichens nennen, die keine Referenz mehr zu sozialen, psychologischen und moralischen Diskursen unterhält.“
Bohrer nun besteht darauf, dass in der Kunst die Vorführung des Bösen, von Gewalt und Grausamkeit, nicht Abbildung oder visionäre Antizipation von Wirklichkeit ist, sondern ein Stilmittel.
Die Darstellung des Bösen in der Kunst zielt nicht einfach auf den stärksten Schock, den Kitzel der Drastik, sie sucht nicht den bloßen Effekt. Eine derartige Funktionalisierung der Darstellungen des Bösen ist, laut Bohrer, dagegen „charakteristisch für eine bestimmte Sorte besserer pornografischer Phantasie oder Horrorliteratur, nicht für die eigentlich poetische“.
Für Bohrer ist das ästhetisch Böse in den Werken der Moderne nicht vor allem Stoff, Inhalt, den diese einem mörderischen Zeitalter verdankt, sondern ein Mittel die Sphäre des Ästhetischen vom Gewöhnlichen abzusetzen, im Schockierenden die unversöhnliche Autonomie der Werke zu behaupten, sie dem Comment der Genießer und der therapeutischen Integration ins Alltägliche zu entziehen.
Das Böse in der Kunst der Moderne ist laut Karlheinz Bohrer Chiffre „eines absoluten Bewusstseins der künstlerischen Phantasie, von einem Ausgesetztsein im Unendlichen“. Er verneint deshalb eine allegorische Funktion des Bösen in der modernen Kunst.
Das Böse schlägt nicht mehr um ins Rettende, in eine Epiphanie des Heils, so, wie es Walter Benjamin im „Ursprung des deutschen Trauerspieles“ für das deutschsprachige Theater des Barock zeigt, das „zuletzt im Anblick der Gebeine nicht treu verharrt, sondern zur Auferstehung treulos überspringt“ (Benjamin, S. 406).
Benjamins Charakterisierung des Bösen in den Trauerspielallegorien berührt sich aber durchaus mit der Beschreibung des ästhetisch Bösen durch Karlheinz Bohrer.
Wissen, nicht Handeln ist die eigenste Daseinsform des Bösen. Und demgemäß ist physische Verführung, als Wollust, Völlerei, Trägheit, sinnlich nur begriffen, bei weitem nicht sein einziger, ja streng genommen gar kein letzter und genauer Seinsgrund. Dieser vielmehr eröffnet sich mit der Fata morgana eines Reiches der absoluten, das ist gottlosen, Geistigkeit wie es, als Gegenstück dem Materialischen verbunden, das Böse erst konkret erfahren lässt.
Der in ihm vorherrschende Gemütszustand ist die Trauer, zugleich die Mutter der Allegorien und ihr Gehalt. Und ihm entstammen drei ursprüngliche satanische Verheißungen. Sie sind geistiger Art. In der Gestalt des Tyrannen, bald des Intriganten zeigt immerfort das Trauerspiel sie wirksam.
Was lockt ist der Schein der Freiheit – im Ergründen des Verbotnen; der Schein der Selbständigkeit – in der Sezession aus der Gemeinschaft der Frommen; der Schein der Unendlichkeit – in dem leeren Abgrund des Bösen.
BENJAMIN; WALTER; Ursprung des deutschen Trauerspiels, Ges. Schriften, Bd. I.1, (Suhrkamp Verlag) Frankfurt am Main 1991, S. 404 f
Programmatisch grandios formuliert John Milton im siebzehnten Jahrhundert diesen eminenten Willen zur Autonomie in seinem Epos „Paradise Lost“ (1667/1674), wo sich Luzifer mit den folgenden Worten an seine Getreuen wendet:
The mind is its own place, and in itself /Can make a heaven of Hell, a hell of Heaven.
Here at least / We shall be free; the Almighty hath not built / Here for his envy, will not drive us hence; / Here we may reign secure; and in my choice / To reign is worth ambition, though in Hell; / Better to reign in Hell than serve in Heaven.
MILTON, JOHN; Paradise Lost, (Kurd and Houghton) New York 1868, S. 10 f
Der Geist ist selbst sein eigner Ort und macht / Aus Himmel Hölle sich, aus Hölle Himmel.
Hier werden frei zum mindesten wir sein. / Hier hat die Allmacht nicht aus Neid gebaut, / Und treibt uns nicht mehr fort. Wir herrschen hier / In Sicherheit, und wenn’s nach mir geht, so / Sei’s in der Hölle, Herrschen lohnt sich immer: / Zu herrschen in der Hölle hier ist mir / Lieber, als in dem Himmel nur zu dienen.
MILTON, JOHN; Das verlorene Paradies, (Reclam) Stuttgart 1996, S. 14
Dieser Typ Outlaw hat, vor allem über die Romantik, seinen Weg in die Moderne und auch in andere, populärere Genres der Literatur gemacht. Jack London, zum Beispiel, lässt einen anderen Empörer, den Protagonisten seines Romans „Der Seewolf“, den Kapitän Wolf Larsen, eben diese Worte, „Hier werden frei zum mindesten wir sein …“, aus Miltons Epos zitieren. (J. London, S. 148)
Fantômas und jede Menge andere Finsterlinge der Literatur – inklusiver derer von Dan Brown – variieren diesen Typus des metaphysischen Aufrührers und auch Heath Ledgers postum mit einem Oscar prämierte Interpretation der Rolle des „Jokers“ in dem Film „The Dark Knight“ steht noch in dieser Tradition, auf vertrackte Weise aber auch der Gesetzeshüter, der außerhalb der Gesetze agiert.
Dem Furor der künstlerischen Moderne und ihrer Vision einer barbarischen Aristokratie von Außenseitern, die noch triumphiert, wo sie auf Ablehnung stößt: „Was beim schlechten Geschmack berauschend ist, das ist das aristokratische Vergnügen zu missfallen.“ (Baudelaire, S. 24), sind wir mittlerweile doch einigermaßen entfremdet, darin genau sind wir postmodern.
Irgendwann sind wir vom Weg der Moderne ins kryptische Dunkel fortschreitender Verweigerung abgekommen und haben uns für eine Politik der Aneignung, eigentlich der Wiederaneignung unserer Alltäglichkeit entschieden, durchaus spielerisch, pragmatisch auch, vor allem aber neugierig – Beweglichkeit und Diversität ist der Wahlspruch.
„Culturematic“, eine programmatische Skizze von Grant McCracken zur allmählichen Verfertigung von Kultur in kleinen Stücken, bietet in dieser Hinsicht weitere Gesichtspunkte und Anregung.
Es waren nicht zuletzt die neuen Medien und deren zunehmend unkomplizierte Verfügbarkeit, die der bildenden Kunst seit den neunzehnhundertneunziger Jahren das Erzählen wieder ermöglicht haben – ja, eine neue Narrativität hervorgebracht haben, die sich als äußerst vital erweist.
Der Outlaw ist in diesen Erzählungen eher ein Muster, mehr eine Art operative Disposition, als ein Schicksal. Damit machen wir, dem Barock nicht unähnlich, sein „Bild“, seine „Rolle“ der Interpretation, der Allegorisierung verfügbar. Genau wie „Das Böse“, hört er auf, reine Chiffre „eines absoluten Bewusstseins der künstlerischen Phantasie, von einem Ausgesetztsein im Unendlichen“ zu sein, statt dessen wird die Figur im kulturellen Kontext aktualisiert, variiert und eventuell bereichert.
Irgendwie scheint es durchaus nahe zu liegen, Entwicklungen der zeitgenössischen Kultur im Vegleich mit dem Barock zu verstehen, jedenfalls habe ich mir von Angela Ndalianis, „Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment (Media in Transition)“ bestellt.
Samstag Abend, wieder zu Hause, habe ich noch die Böden von Küche und Bad gewischt, anschließend habe ich mir „Pirates of the Caribbean“ angeschaut, von DVD – Jack Sparrow, ein Outlaw mit der Fähigkeit zur Selbstironie. Darin auch unterscheidet er sich von Commodore Norrington, der erst gegen Ende mental etwas beweglicher wird.
ALLAIN, MARCEL u. SOUVESTRE, PIERRE; Fantomas: Mord in Monte Carlo, (Gerhardt Verlag) Berlin 1986
BAUDELAIRE, CHARLES; Lichtblitze (Fusées), in: Intime Tagebücher und Essays, (Wilhelm Heyne Verlag) München 1978
BENJAMIN; WALTER; Ursprung des deutschen Trauerspiels, Ges. Schriften, Bd. I.1, (Suhrkamp Verlag) Frankfurt am Main 1991
BOHRER, KARLHEINZ; Die Ästhetik des Bösen, Neue Zürcher Zeitung, 12.05.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/12/li/articleF41MT.html
LONDON, JACK; Der Seewolf, (dtv) München 1996
MILTON, JOHN; Paradise Lost, (Kurd and Houghton) New York 1868
http://books.google.de/books?pg=PA10&dq=milton+paradise+lost&id=NkYWAAAAYAAJ#v=onepage&q=&f=false
MILTON, JOHN; Das verlorene Paradies, (Reclam) Stuttgart 1996