Ein „Cliffhanger“ ist ein dramaturgischer Kniff, der bei Fortsetzungsromanen und Fernsehserien gerne eingesetzt wird um Leser und Zuschauer zu binden. Eine Folge endet, ohne dass die Teilhandlung bereits zu Ende erzählt wäre, so dass Zuschauer und Leser bis zur nächsten Folge in Spannung gehalten werden.
„Cliffhanger“ ist aber auch der Titel eines Actionthrillers von 1993 mit Sylvester Stallone in einer Hauptrolle. Er spielt, seinem Talent fürs Serielle entsprechend, wieder jenen vereinsamten Typ Mann, mit traumatisierter Emotionalität, in diesem Fall einen Bergführer in den Rocky Mountains, der getreu dem Rat von Leonardo da Vinci „Wer nicht kann, was er will, soll wollen, was er kann.“, sich den Bösewichten entgegenstellt und diesen ein gnadenloses Ende bereitet. Die Kletterszenen des Films und eine Stelle in „Transformations“ von Grant McCracken haben sich mir etwas eigenwillig mit der Arbeit des Zeichnens und Malens, wie ich sie erlebe, verbunden.
Grant McCracken beschreibt zu Anfang des zweiten Kapitels im fünften Teil seines Buches „Transfomations“ mentale Techniken des Bergsteigens: das „Hineinzoomen“ und das „Herauszoomen“.
In the world of rock climbing, there is “zooming out” and „zooming in“. Zooming out is what the climber does when she has a chance to rest on a mountain face. Zooming in is what she does when she is moving methodically across it. Zooming in demands concentration and constant movement. The climber is held to the rock face as if by surface tension. The Hand is set in motion with no clear knowledge of where it will come to rest. But it must eventually come to rest. Momentum is everything.
McCRACKEN, GRANT; Transformations, Bloomington & Indianapolis (Indiana University Press) 2008, S. 122
Das Herauszoomen ist leicht nachzuvollziehen, es ist ein Ausruhen in sicherer Position. Eine Erfahrung, die viele wahrscheinlich schon gemacht haben, vielleicht nicht in der Wand, am Berg, aber doch in schwierigem Gelände, plötzlich gibt es die Möglichkeit innezuhalten, auszurasten, in der Achtsamkeit nachzulassen, Kraft zu schöpfen. Das ist durchaus vergleichbar mit dem, was passiert, wenn man eine Arbeit, die große Konzentration erforderte, unterbricht oder beendet, dem mentalen Loslassen und Zurücktreten, dem Abfallen der Spannung und Abschweifen der Aufmerksamkeit .
Das Hineinzoomen dagegen ist schwieriger zu fassen.
Der Kernsatz der zitierten Stelle in dieser Hinsicht ist: „The climber is held to the rock face as if by surface tension.“ Es ist dieses spezielle Erlebnis, das jetzt, nachdem ich einige Zeit nur wenig gezeichnet und gemalt habe wieder besonders markant ist, dieses seltsame Empfinden, man treffe beim Arbeiten keine souveränen Entscheidungen aus der Distanz, die sich an Plänen, Vorgefasstem orientieren, sondern reagiere vielmehr direkt auf die unmittelbaren Erfordernisse des Bildes, als taste man sich mit äußerst gespannter Aufmerksamkeit im Unbekannten weiter, immer bereit die Anstrengung zu intensivieren.
Unangenehm wird es, wenn dieses flüssige Hin und Her von Wahrnehmen und Machen zu stocken beginnt oder abbricht, wenn man den Kontakt verliert, ins Basteln gerät, sich in fahrige Rückgriffe und zu den Schablonen der Routine flüchtet.
Ich kann lange Zeit unverdrossen an einer bestimmten Stelle des Bildes, einem Gesicht zum Beispiel, arbeiten, Partien wieder und wieder ändern, ohne dass ich das Gefühl habe ins Blaue hinein zu pfuschen. Ich intensiviere vielmehr das Ergebnis bis zu dem Punkt wo, es für mich stimmt. Außenstehende mutet das häufige Umarbeiten gewöhnlich wie sinnlose Erschwernis an, wo bereits frühere Zustände ihrer Meinung nach schon völlig zufriedenstellend waren. Für sie ist kaum zu unterscheiden zwischen bloß willkürlichen Änderungen und dem Insistieren auf einer bestimmten Resonanz.
KünstlerInnen bei der Arbeit sind in diesem Sinne auch häufig Cliffhanger und in Gefahr den Kontakt zur jeweiligen Arbeit zu verlieren, abzustürzen, nicht um den Preis von Verletzungen oder gar des Lebens, aber um den Preis verzweifelter Vergeblichkeit. Dazuhin ist das Zeichnen und Malen selbst, wie eine Soap-Opera, wie ein Fortsetzungsroman, ebenfalls durchsetzt von Cliffhangern, jenen Momenten, die die Spannung aufrecht erhalten, weiterführen, am Ende die Elemente des Bildes einander verflechten.
Dem korrespondiert eine Stelle aus dem Buch „Raum und Zeit“ von Pavel Florenskij.
Pavel Florenskij war ein russischer Theologe, Mathematiker, Natur- und Kunstwissenschaftler, der anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts eine originelle Synthese aus zeitgenössischer Naturwissenschaft, Mathematik und Physik vor allem, orthodoxer Theologie und Neuplatonismus geschaffen hat.
Der Künstler bewegt sich mit seinem Aufzeichnungsmittel in diesem Raum wie auf unebenem Gelände […]. Er fühlt sich dann von den objektiven Arbeitsbedingungen, dem Relief des Geländes, in dem er arbeitet, gezwungen, gerade so und nicht anders zu verfahren, nicht das zu tun, was ihm wünschenswert erschiene, sondern im Gegenteil das Unerwünschte, ja sogar Unvorhergesehene. Er fährt gleichsam mit dem Bleistift über ein Blatt Papier, unter das ein Modell geschoben wurde, und die Bilder treten von selbst hervor. Dies ist die realistische Auffassung von Kunst.
FLORENSKIJ, PAVEL; Raum und Zeit, Berlin (Edition Kontext) 1997, S. 146
Noch einmal anders beschreibt dies Julio Cortàzar in Kapitel 82 seines grandiosen Romans „Rayuela“, den ich gerade wieder lese.
Zuerst ist da eine konfuse Situation, die sich nur durch das Wort definieren lässt; von diesem Halbdunkel gehe ich aus, und wenn das, was ich sagen will (was sich sagen will) genügend Kraft besitzt, setzt sofort der swing ein, eine rhythmische Schwingung, die mich an die Oberfläche zieht und alles beleuchtet, die die ungeordnete Materie und den, der sie erleidet, in einer klaren und unausweichlichen dritten Instanz vereinigt : dem Satz, dem Abschnitt, der Seite, dem Kapitel, dem Buch. Diese rhythmische Bewegung, dieser swing, in welchem die ungeordnete Materie Gestalt annimmt, ist für mich die einzige Gewissheit ihrer Notwendigkeit, denn kaum endet sie, begreife ich, dass ich nichts mehr zu sagen habe. Und zugleich ist sie der einzige Lohn für meine Arbeit – ich fühle das, was ich geschrieben habe, wie den Rücken einer Katze, der sich unter der streichelnden Hand rhythmisch und funkensprühend hebt und senkt. So steige ich durch mein Schreiben in den Vulkan hinab, nähere mich den Müttern, verbinde mich mit der Mitte – was immer das sei. Schreiben bedeutet, mein Mandala zeichnen und es gleichzeitig durchlaufen, die Läuterung erfinden, indes man sich läutert; Fron des armen weißen Schamanen in Nylonunterhosen.
CORTÀZAR, JULIO; Rayuela, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1987, S. 460
Das Gefühl man führe eher aus, was sich sagen will, was sich einem zusagt, ins Bild drängt, das Werk sei also irgendwie schon da, der künstlerischen Arbeit vorgängig, das ist häufig dokumentiert. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass es einer besonderen Gestimmtheit, einer konzentrierten Offenheit, ja, auch eines Ethos bedürfe um es dann letztlich auch realisieren zu können.
Nüchterner sieht das Oswald Wiener in seinem Aufsatz „Wer spricht?“.
Sehr bemerkenswert erscheint mir, dass ich häufig im Gefühl, ein richtiges und arbeitsfähiges Modell einer Situation zu besitzen, total unfähig bin, dieses Modell ins Bewusstsein zu heben, es in passenden Worten zu beschreiben. Reden, oder Schreiben, ist dann etwa wie ein Kritzeln mehr oder weniger zufälliger Formen und Warten auf zustimmende oder ablehnende Reaktionen des Organismus auf dieses sensorische Angebot: das Wiedererkennen ist sehr viel leichter als das Erzeugen. Also ersetze ich im Gekritzel immer wieder jene Züge, gegen die sich der Körper am meisten sträubt, und langsam, mühsam wächst das zu etwas, mit dem ich leben kann. Ist das ursprünglich anvisierte Modell erfasst? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist etwas an seine Stelle getreten, das ich betrachten und manipulieren kann.
WIENER, OSWALD; Wer spricht?, in: Literarische Aufsätze, Wien (Löcker) 1998, S. 92 (Erstpublikation NZZ 12.10.1984)
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