„Mental Cruising“ ist das Gegenteil von Gedankenflucht, ohne Hast und festes Ziel steuert man, seinen Launen folgend, auf Denkwegen zwischen Gedankengebäuden entlang, fährt hier und da etwas langsamer, nach längeren Strecken geradeaus, bringt einen die Neugier dazu abzubiegen, man wechselt von Hauptwegen auf Neben- und Abwege, dann wieder zurück. So geht es dahin, immer mit jener lustvoll schweifenden Aufmerksamkeit, die das lange Verweilen scheut.
„Mental Cruising“ gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Hier ein paar Eindrücke von unterwegs.
Weil ich derzeit auch noch meine nächste Ausstellung „CROSSINGS“ im E-Werk in Freiburg vorbereite, Eröffnung ist am 14. Januar um 19:00 Uhr, hat mich eine Bemerkung der Autorin Judith Hermann in einem Interview mit Dagmar Giersberg gefreut.
Judith Hermann sagt da, dass sie bei der Arbeit nur langsam vorankomme und dass sie aber nicht schneller schreiben könne, als sie es eben tue. Für mich daran bemerkenswert ist, dass sie ihre Langsamkeit letztlich mit dem „Text“ selbst begründet, der ihr ein höheres Arbeitstempo gar nicht gestattet.
Ich könnte mich noch so sehr anstrengen – es würde nicht gehen. Der Text würde sich der Eile erwehren.
Judith Hermann; „Ich bin eine langsame Schreiberin“
So geht es mir auch, beim Malen: man kann mehr arbeiten, aber keine Abkürzungen nehmen, außer man begnügt sich mit Murks. Warum das so ist, kann ich auch nicht schlüssig erklären. Irgendwie scheinen Bilder wie Texte ein Eigenleben zu haben über das man nicht selbstverständlich verfügen kann.
Der argentinische Autor Julio Cortázar (1914-1984) äußerte dazu in einer Sendung des SWR.
Was ich schreibe, wird mir ein wenig diktiert. Auch wenn ich weiß, dass ich Romanautor bin, bin ich mir nicht sicher, der Autor meiner Erzählungen zu sein. Das ist weder paradox noch falsche Bescheidenheit. Ich glaube Schriftsteller sind ein Medium und geben etwas weiter. Die meisten Erzählungen schreibe ich ohne ihren Schluss zu kennen, sie kommen durch einen kreativen Selbstmechanismus ans Ende und ich bin ihr erster Leser.
Julio Cortázar in „Das Phantastische einladen – In Memoriam Julio Cortázar“, Feature von Roman Herzog, SWR2, 08.06. 2004
Den Verfassern des „Corpus Hermeticum“ bereits galt unbesonnene Überstürzung, Hast und Eile als eine der „Strafen“, von denen die Seele sich beim Aufstieg zu Höherem zu befreien habe. Das las ich so in „Giordano Bruno and the Hermetic Tradition“ von Frances A. Yates, dem 1964 erstmals erschienen Standardwerk zum Hermetismus der Renaissance.
Das „Corpus Hermeticum“ ist ein Konvolut griechischer Texte aus dem 1. bis 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Es gelangte um 1460 aus Mazedonien nach Florenz, durch einen Mönch, der im Auftrag von Cosimo de‘ Medici (1389-1464) nach Manuskripten suchte. Marsilio Ficino, der, ebenfalls im Auftrag von Cosimo, dabei war die Werke Platos aus dem Griechischen zu übersetzen, unterbrach diese Arbeit für die Übertragung des neu angekommenen Manuskriptes, wahrscheinlich weil Cosimo de‘ Medici bereits alt war und das „Corpus Hermeticum“ sensationelle Einsichten versprach.
Damals glaubte man, die Texte stammten von einem sagenhaften ägyptischen Weisheitslehrer, „Hermes Trismegistus“, der mindestens zu Moses‘ Lebzeiten, wenn nicht sogar vorher noch, als Priester in Ägypten gewirkt hatte.
Die steinernen Einlegearbeiten des Fußbodens der Kathedrale von Siena (Cattedrale di Santa Maria Assunta) zeigen auch das Bild des „Hermes Trismegistus“, des „dreimalgrößten Hermes“ – wenn ich mich recht erinnere, befindet das Bild sich nahe beim Hauptportal, ist aber gewöhnlich durch eine Abdeckung geschützt.
Erst 1614 gelang Isaac Casaubon der Nachweis, dass die Schriften des „Corpus Hermeticum“ nicht vor den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden sein konnten. Die wahren Autoren der Texte sind unbekannt.
Es ist das Verdienst von Frances A. Yates durch ihre Forschungen die Bedeutung, die Spuren und Wirkungen der hermetischen und okkulten Überlieferungen für die Renaissance und die Kultur der Neuzeit herausgearbeitet zu haben. Goethe einen Hermetiker zu nennen, hieße sicher übertreiben und man muss sich auch nicht Frances A. Yates anschließen, die im Hermetismus den Kern der Renaissance sah, um nicht trotzdem auch beim Symbolbegriff Goethes deutlich Gemeinsamkeiten mit dem Hermetismus festzustellen, versteht sich doch der Hermetismus als nicht-diskursives, durch Symbole vermitteltes Wissen, dessen wichtigstes Element das Motiv der Offenbarung ist.
Bei Goethe liest man:
Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“
GOETHE, J. W. v.; Maximen und Reflexionen, Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 12, München (C.H. Beck) 1981, S. 471
Faszinierend, wie Fiktionen den Gang der Welt bestimmen.
Sagen wir, die Welt ist eine Figur, man muss sie lesen. Mit lesen meinen wir, sie erzeugen.
CORTÁZAR, JULIO; Rayuela,(Suhrkamp Verlag) Frankfurt a. M. 1987, S. 438
Materialien:
YATES, FRANCES A.; Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, (Routledge) Abingdon (GB) 2008
YATES, FRANCES A.; Die okkulte Philosophie im elisabethanischen Zeitalter, (Edition Weber) Amsterdam 1991
EBELING, FLORIAN; Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, Die Geschichte des Hermetismus, (C. H. Beck) München 2005, mit einem Vorwort von Jan Assmann
Kategorien:Allgemein, Ausstellung