Vergangenen Dienstag vor vierzig Jahren ging in den Morgenstunden des 18. August das legendäre Musikfestival von Woodstock mit dem Auftritt von Jimmy („Jimi“, Dank an H.P. Schlotter) Hendrix und der Band of Gypsys zu Ende. An dem Dokumentarfilm zum Festival mag ich besonders die Episode zum Auftritt von Joe Cocker und Band mit ihrer Version von „With a Little Help from My Friends“. Hinreißend finde ich die Kombination von Gesang und Körperarbeit bei Joe Cocker, sein hingebungsvolles Spiel der Luftgitarre und seine ausgetretenen Stiefel mit den aufgenähten Sternen.
Keine zwei Wochen zuvor wurden in Los Angeles mehrere Menschen umgebracht. In der Nacht vom 08. auf den 09.August 1969 wurden die schwangere Sharon Tate, ihre Freunde Voytek Frykowski, Abigail Folger, Jay Sebring und der zufällig aufgetauchte, achtzehnjährige Steven Parent durch drei Frauen und einen Mann, alle Angehörige der „Manson Family“, auf dem Anwesen von Sharon Tate und Roman Polanski am Cielo Drive in Los Angeles grausam ermordet.
Zum vierzigsten Jahrestag der Morde am Cielo Drive ist pünktlich der neue Roman, „Inherent Vice“ von Thomas Pynchon erschienen, in dem Charles Manson, seine Family und ihre schaurigen Taten allgegenwärtig sind.
„Inherent Vice“ ist einer der kürzeren und zugänglicheren Romane von Thomas Pynchon. Seine thematische Nähe zu dem früheren Roman „Vineland“ fällt sofort auf. „Vineland“ spielt 1984, „Inherent Vice“ 1970. Beide Romane befassen sich mit den Hoffnungen, dem Zerfall und Scheitern der Gegenkultur der neunzehnhundertsechziger Jahre, den vielfältigen Bemühungen des Staates und der Staatstragenden diese zu unterwandern, zu korrumpieren, zu schwächen und zu zerschlagen.
Dunkle Gestalten des politischen Hintergrundes sind in beiden Romanen die erklärten Gegner der Hippies: Ronald Reagan, 1970 Gouverneur von Kalifornien und 1984 bereits Präsident der USA sowie Richard (Tricky Dick) Nixon, der 1970 amtierende, glücklose 37. Präsident der Vereinigten Staaten.
Unzimperlich macht Pynchon seine Meinung über Richard Nixon deutlich, wenn er diesen in „Inherent Vice“ sagen lässt, „There are always the whiners and complainers who’ll say this is fascism. Well fellow Americans, if it’s Fascism for Freedom? I … can … dig it!” (S. 120).
Eine Vorstellung der politischen Situation aus der Sicht der rebellierenden Jugend liefert das 1971 erschiene Buch „Täglicher Faschismus, amerikanische Evidenz aus 6 Monaten“ von Reinhard Lettau, damals Professor für Deutsche Literatur an der University of California in San Diego. Lettau versammelt darin Nachrichten, Leitartikel und Kommentare verschiedener Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere der Los Angeles Times, aus der Zeit vom 15.09. 1969 bis zum 15.03. 1970.
„Inherent Vice“ beginnt wie ein gängiger Kriminalroman, eine schöne Frau und frühere Geliebte, Shasta Fay Hepworth, taucht im Büro des Privatdetektives Larry „Doc“ Sportello auf. Kurz darauf ist sie verschwunden, ebenso der Imobilientycoon Mickey Wolfmann. Doc macht sich auf die Suche nach den beiden und damit auf den Weg in die Unterwelt des American Dream.
Die Romane von Thomas Pynchon können alle auch als moralische Parabeln gelesen werden und der Titel seines neuen Romans „Inherent Vice“ legt dies nahe wie keiner zuvor. „Inherent Vice“ könnte man salopp mit „Konstruktionsfehler“ übersetzen, „Vice“ ist aber auch „das Laster“ und „der Schraubstock“, beide dazu angetan unerbittlich festzuhalten.
Der Titel wird in diesem Sinn auch an einer Stelle (S. 351) thematisiert, der Protagonist des Romans Larry „Doc“ Sportello, Privatdetektiv in Los Angeles, schaut sich die Vergrößerungen von Aufnahmen an, die einen maskierten Killer zeigen und erinnert sich dabei an ein Gespräch mit seinem Anwalt Sauncho Smilax über die Frage wann und weshalb der Amerikanische Traum zum Alptraum aus Gier, Gewalt, Korruption und Zerstörung wurde.
Dieser melancholische Blick auf die Geschichte, vor allem der neuzehnhundertsechziger Jahre, der Hippiebewegung und der Studentenrebellion, speziell in Südkalifornien, ist charakteristisch für Thomas Pynchon. Da spricht verletzte Liebe zu einem Land, das trotz allem irgendwie doch das beste auf Erden ist, das Land, dessen Unabhängigkeitserklärung bereits seit 1776 „Life, liberty, and the pursuit of happiness“ als unveräußerliches Recht des einzelnen Menschen garantiert. Treulos optimistisch verrät folgerichtig die Kunst von Thomas Pynchon immer wieder „die vermeintliche Unendlichkeit der Hoffnungsleere“ (Benjamin, S. 406), greift zum Joint und springt ins Burleske, zitiert Gassenhauer und die Populärkultur, riskiert Kalauer, mäandert durchs Pantastische und feiert Auferstehung durch Imagination.
BENJAMIN, WALTER; Ursprung des deutschen Trauerspiells, Ges. Schriften, Bd. I.1, (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1. Aufl.) Frankfurt a. Main 1991
HEIL, CHRISTIANE, „Charles Manson. In vierzig Jahren kein Tag ohne Trauer“, FAZ, Nr. 181, 07.08.2009 S. 6
LETTAU, REINHARD; Täglicher Faschismus, amerikanische Evidenz aus 6 Monaten, (Hanser Verlag) München 1971
PYNCHON, THOMAS; Inherent Vice, (Jonathan Cape) London 2009
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