Wer den Fernseher anmacht muss gewöhnlich nicht lange suchen um eine Kochshow zu finden. Was wurde uns hier nicht bereits alles präsentiert im Spektrum zwischen exzentrisch und bieder, Lafer, Schuhbeck und Klink, Lichter, Mälzer und Zacherl, der jungenhafte Jamie Oliver. Frauen sind in diesem Genre eher unterrepräsentiert, auf Anhieb fällt mir nur Sarah Wiener ein. Die Mixtur aus Kochen, Kreativität und Kasperei scheint mehr eine Sache der Männer. Verständlich, dass Beef ein Männermagazin ist, für Fans der kulinarisch elaborierten Fleischeslust.
Häufig sind es ja unscheinbare Erlebnisse, die einem etwas verdeutlichen, was einem länger bereits nur undeutlich präsent war.
Mir ging es so beim Lesen der Süddeutschen Zeitung zum Wochenende vom 16. und 17. Mai ⎯ Buch Zwei war dem Koch René Redzepi und seinem Restaurant Noma in Kopenhagen gewidmet. Dabei ist das Noma eigentlich nicht bloß ein Restaurant, es ist Kult und das heißt heute, es ist eine Marke.
Bereits zwei Mal ist das Noma zum besten Restaurant der Welt gekürt worden. Dieses Jahr ist es eben mal umgezogen, für drei Monate nach Tokio, ins Mandarin Oriental Hotel. Sechzigtausend Menschen hätten sich dort gerne von Redzepi und seinen siebenundsiebzig Mitarbeitern bekochen lassen. Dreitausend nur durften sich am Ende glücklich schätzen, einen Platz ergattert zu haben. Sensationell. Selbstverständlich gibt es eine ganze Menge Menschen, die gerne bereit sind im Noma umsonst zu arbeiten. Jeder Kult hat seine Proselyten.
Laut Süddeutscher Zeitung sind auch andere Köche mit ihren Restaurants auf Tour. Die Roca-Brüder aus Katalonien beglücken Südamerika mit ihren Künsten und Heston Blumenthal hat sich von England aus nach Australien aufgemacht.
Köche sind die neuen Künstler. Ferran Adrià der Chef vom El Bulli mit seinem Auftritt bei der Documenta 12 markierte den Anfang dieser Erneuerung eines Berufsbildes. Gilt für die fragilen kulinarischen Preziosen dieser neuen Künstler nicht in besonderem Maße, was Paul Valéry für alle Werke der Kunst feststellte, eine Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Effekt?
Dieses oder jenes Werk zum Beispiel ist die Frucht langer Bemühungen und sammelt in sich eine Fülle von Versuchen, Rückgriffen, von Weglassungen und Wahlakten. Es hat Monate und sogar Jahre der Überlegung verlangt, und es setzt vielleicht auch die Erfahrung und die Errungenschaften eines ganzen Lebens voraus. Nun, die Wirkung dieses Werkes vollzieht sich in wenigen Augenblicken. […] Es ist die Wirkung einer Unverhältnismäßigkeit. (Valéry, S. 211)
In den Neunzehnhundertachtziger Jahren haben sich die Künstler aufgemacht Unternehmer zu werden und das ist ihnen so gut gelungen, dass selbst Koryphäen des Kunstmarktes wie Jeff Koons, Olafur Eliasson und Gerhard Richter verglichen mit René Redzepi heute wie freundliche Mittelständler wirken, die vergleichsweise abgesicherte Marktsegmente bedienen. Noch ein ambitionierter Provokateur wie Jonathan Meese wirkt wie ein Fossil gegen den Koch aus Kopenhagen.
Figuren wie René Redzepi und Ferran Adrià bieten, was von Künstlern so erwartet wird: medientaugliche Exzentrizität, steile Thesen, Abenteuerlust, Sturheit, eine gewisse Getriebenheit, ästhetische Kompromisslosigkeit und die Lust am Tabubruch. Gerne dürfen die Zauberer am Herd auch eine schwierige Kindheit, eine problematische Schulzeit oder sonstige Gefährdungen überstanden haben. Hinzu kommt das Charisma der Selfmademen und der Appeal des Naturwissenschaftlichen, der ihre Molekularküche und die Kreationen aus Moos und Flechten verklärt. Selbst der „Vegan-Chef“ Attila Hildman und seine Amalgamierung von Veganismus und Fitness-Kult passt zu dieser Avantgarde.
Nun dürfen auch die Köche von den Königsberger Klopsen kosten, die Immanuel Kant 1790 mit seiner prägenden Schrift Kritik der Urteilskraft servierte.

Gottlieb Doebler, Bildnis Immanuel Kant, 1791, Museum Stadt Königsberg, Foto: Wikipedia, Wikimedia Commons
Diesen zum Beispiel:
Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack, zur schönen Kunst selber aber, d. i. der Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordert. […] Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs- nicht aber ein produktives Vermögen, […]. (Kant, S.198 ff)
Sicher, bei Kant ist das alles sehr differenziert, abwägend um begriffliche Stringenz bemüht. Trotzdem zählen viele seiner Gedanken und Begriffe in den verschiedensten Adaptionen zum populären Grundbestand unseres Kunstverständnisses. Besonders auch der Geniebegriff.
[…] die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich. (Kant, S. 193)
denn
Genie ist die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. […] und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken und anderen solche Vorschriften mitzuteilen, die sie instand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen. (Kant, S. 193 f)
Die naturwüchsige Kraft der Genialität prägt die Wirklichkeit der Kunst, macht ihre Spielregeln, diese sind nicht lehrbar, weil selbst die Urheber der Kunstwerke nicht recht wissen, was sie eigentlich tun. Kunst ist eben Kunst und kein Handwerk und auch keine Naturwissenschaft. Über die Kunst an der Kunst kann eigentlich nicht gesprochen werden, der Geschmack kann sie nur beurteilen und für seine Urteile dann Gültigkeit reklamieren.
So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen Werke der Naturphilosophie […] vorgetragen hat, gar wohl lernen; aber man kann nicht geistreich dichten lernen […]. (Kant, S. 195)
Der Geniekult ist heute zwar weitgehend vom Starkult abgelöst worden, das hat den Kreis jener, die zu den kulturellen VIPs gezählt werden können bedeutend erweitert, aber noch immer füllen wir die Lücke zwischen bloßem Handwerk ⎯ also dem was durch Kenntnisse und Übung beherrscht werden kann ⎯ und dem Kunstwerk mit Mystik, mit einer rauschhaften „Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte“ (Nietzsche), jenem je ne sais quoi der Adepten des Geheimnisses, das uns erklärt, dass hier nichts zu erklären ist, denn …
Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt. (Kant, S. 70)
Klar zielt ein Geschmacksurteil auf die Allgemeinheit, auf eine Community.
Diese unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt; das beweist unsere Anmaßung, Geschmacksurteile zu fällen. (Kant, S 98)
Okay, weil uns etwas gefällt meinen wir, müsse es auch anderen gefallen.
[…], weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als übersinnliches Substrat der Menschheit angesehen werden kann. (Kant, S. 238)
Als ich den Artikel in der SZ gelesen habe, fühlte ich mich irgendwie erleichtert, als sei ich eine ungeliebte Bürde los. Das ganze Gedöns um Qualität und Originalität, um Genie- und Starkult. Lasst mal die Köche ran, dachte ich mir. Vielleicht sind ja Restaurants und raffinierte Menüs die angemesseneren Orte und Anlässe für Geschmacksurteile als Ausstellungen und das, was wir unter Kunst verstehen.
Ich finde Diskussionen um Geschmacksurteile und „Qualität“ mittlerweile nämlich eher ermüdend und unproduktiv. Meistens enden sie doch damit, dass jeder sich auf das sprichwörtliche „Weil es mir eben gefällt!“ zurückzieht oder den Markt zum Maßstab macht.
Vielleicht wäre es schon hilfreich, die Begriffe Genie, Genialität, Urteil und Geschmacksurteil aus der Diskussion zu nehmen und sich mehr an Prozesse und Erfahrungen zu halten. Vielleicht lässt sich ja die Kunst anders fassen als durch Urteile, die im Begriffslosen wurzeln und Allgemeinheit für sich beanspruchen, anders als durch die Verallgemeinerung exklusiver Beziehungen zu Werken.
Möglicherweise können wir beim romantischen Begriff der Kritik anknüpfen und Kritik als ein Weiterführen der Werke im Medium der Reflexion (W. Benjamin) verstehen, als ein Aufnehmen von Impulsen und die Werke eher als Nodes, als Knoten- und Kristallisationspunkte oder, warum nicht, als Konstellationen anklickbarer Elemente sehen.
Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewusstsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. […] Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welches dieses nicht, wie es im Sinn der romantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde. Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerkes ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung. (Benjamin, S. 65 f)
Jede kritische Erkenntnis eines Gebildes ist als Reflexion in ihm nichts anderes, als ein höherer selbsttätig entsprungener Bewusstseinsgrad desselben. (Benjamin, S. 67)
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch nützlich sich mit den Arbeiten und dem Objektbegriff von Graham Harman zu befassen. Für Graham Harman sind Objekte nicht nur Dinge, Gegenstände im landläufigen Sinn wie beispielsweise Autos, Häuser, Gurken, Stühle, Computer und Tassen; auch Personen und Reiche der Geschichte, Kulturphänomene und Celebrities, ebenso Elfen, Hobbits, mythologische Wesen, Sachverhalte und Diskurse sind Objekte. Nur einige davon sind materielle Objekte im engeren Sinne, manche Fiktionen, wieder andere rein geistiger Art, aber immer haben wir es mit Komposita zu tun, die eine Vielzahl von Merkmalen offenbaren, andere dagegen verbergen. Eine Beziehung von mir zu einem anderen Objekt ist nur möglich, indem sich ein neues Objekt konstituiert, ein Objekt, das sowohl mich als auch das andere Objekt umfasst. Dieses neue Objekt, mit dem sich diese Relation vollzieht, ist wirklich, auch wenn das Objekt, worauf ich mich beziehe, gänzlich eingebildet ist. Im Rahmen der Überlegungen von Harman wird die hergebrachte Subjekt-Objekt-Relation, die das menschliche Bewusstsein privilegiert, durch eine Objekt-Objekt-Relation ersetzt, nach der alle Relationen zwischen Objekten grundsätzlich zunächst gleichgestellt sind. Damit ist das menschliche Erkennen und das Verhältnis des Menschen zur Welt nicht mehr alleinig maßgeblich.
The human/world relation is treated as extra special, […]. This is the heritage that must be abandoned. Instead, we should be willing to say that any relation between any two things at all is on the same footing. There are levels of the world, and the human being can only move up or down between them, exploring all the contours of the world that exist with or without awareness, and not claim to be the unique fissure across which reality unfolds. Consciousness is no longer special, but just a special case of the relation between part and whole. (Harman 2010, S. 134 f)
Ganz unabhängig von Genie und Urteil kann hier vielleicht die Beziehung zwischen Werk und Betrachter neu, anders gedacht werden.
Quellen:
Benjamin, Walter. 1991. Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1 Teil 1: Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1. Aufl. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 931. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Harman, Graham. 2010. Physical Nature And The Paradox Of Qualities. In: Towards Speculative Realism, S. 122–139. Winchester: Zero Books.
Harman, Graham. 2011. The Quadruple Object. Winchester u.a: Zero Books.
Kant, Immanuel. 2009. Kritik der Urteilskraft. Hg. von Heiner F. Klemme. Philosophische Bibliothek 507. Hamburg: Meiner.
Rolff, Marten. 2015. Küchenschlacht. Süddeutsche Zeitung. Nr. 111. 16/17. Mai. S. 13
Valéry, Paul. 1987. Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik am Collège de France. In: Zur Theorie der Dichtkunst: Aufsätze u. Vorträge, S. 203–226. 4. u. 5. Tsd. Bibliothek Suhrkamp 474. Frankfurt am Main: Suhrkamp.